In unserem Körper ist jedes einzelne Teil, ob klein oder groß, von Bedeutung. Keine Frage.
Dennoch gibt es einige besondere Stellen, denen eine Schlüsselrolle zukommt in Bezug auf unsere körperliche und seelische Gesundheit bzw. unsere Beschwerden. Der Psoas, das ist der große
Lendenmuskel, hat eine solche Schlüsselrolle. Ob Yogalehrerin, Yogaübender oder einfach nur Mensch – jeder sollte diesen wichtigen Muskel kennen, denn er ist maßgeblich für unser
Wohlbefinden. Dafür muss man weder Arzt noch Physiotherapeut sein.
Der Psoas verläuft beidseitig tief innen liegend vom obersten Bereich des Oberschenkelknochens über die Leiste, durch den Bauch zur Lendenwirbelsäule, wo sie in die Brustwirbelsäule
übergeht. Wo er endet, beginnt das Zwerchfell, unser Atemmuskel. Diese beiden großen Muskeln sind über Faszien im Solarplexus miteinander verbunden, sodass der jeweilige Zustand des
einen Muskels den Zustand des anderen beeinflusst. Der Psoas verbindet – als einziger Muskel! - die obere Hälfte des Körpers mit der unteren, also den Rumpf mit Becken und
Beinen. Er richtet uns auf – durch ihn können wir erst aufrecht stehen.
Wenn man vom Psoas spricht, muss man immer auch seine „Nachbarn“ miteinbeziehen. Er ist Teil des Hüftbeugers (Iliopsoas), der aus dem Darmbeinmuskel (Iliacus) und dem kleinen und
großen Lendenmuskel besteht. Dieses Muskelteam ermöglicht es uns zu gehen.
Da ein Ende des Psoas am Oberschenkelknochen sitzt, hat er auch direkte Auswirkungen auf die Oberschenkelmuskulatur und andersherum. Ist der Psoas verspannt, ist es auch der
Oberschenkel. Ist der Oberschenkel verspannt und verkürzt – das geschieht z.B. schnell durch Fahrradfahren, Joggen und Fußballspielen – gibt er diesen Tonus an den Psoas weiter. Die
Spannungen im Lendenmuskel strahlen durch dessen zentrale Lage und Funktion in alle Richtungen aus: in Richtung Knie – Knieschmerzen, in Richtung Hüfte
– Schmerzen und Verschleiß bis hin zur künstlichen Hüfte. Die Spannungen aus dem Lendenmuskel ziehen weiter in die Bauchorgane inklusive der Fortpflanzungsorgane
(Thema Fruchtbarkeit!), die er eigentlich stützen und schützen soll, aber eben auch einengen kann, wenn er verspannt und verkürzt ist. Auch mit Nervenschmerzen hat er zu tun,
dieser großartige Muskel, insbesondere mit Ischiasschmerzen und mit Einengung der Geschlechtsnerven, was zu erektiler Dysfunktion und Lustlosigkeit führen
kann.
Als Resultat der Psoas-Verkürzung hätten wir da noch den abgeflachten unteren Rücken bzw. das Hohlkreuz, Rückenschmerzen (typisch Vielsitzer), Probleme mit den
Bandscheiben und bei Imbalancen des Psoas, wenn also z.B. die rechte Seite kürzer ist als die linke, können durch den Schiefstand die Beine verschieden lang
wirken, das Kreuzbein (samt Iliosakralgelenk) kann verdreht sein, sodass sich diese Drehung weiter in die Wirbelsäule fortsetzt und eine sogenannte Skoliose verursacht.
Obwohl sich diese Liste noch fortsetzen ließe, schließe ich meine hier, um zu anderen Ebenen zu wechseln.
Alles physische Leid, das durch einen „ungepflegten“ Psoas entstehen kann, macht sicher bereits verständlich, wie sehr er über das Körperliche hinaus ebenso an unserem Seelenheil beteiligt ist.
Dass man den Psoas oft als Sitz der Seele bezeichnet, liegt an seiner psychischen und energetischen Bedeutung. Der Lendenmuskel ist über das Rückenmark mit dem
Hirnstamm – unserem Reptiliengehirn – verbunden, ein uraltes Relikt unserer Vorfahren, das noch immer aktiv ist. Der Hirnstamm kümmert sich instinktiv, also jenseits des
bewussten Willens, um unser Überleben. Durch eindeutige Reize wie einen Knall oder etwas, das schnell auf uns zukommt, zieht sich der Psoas entweder blitzschnell zusammen, sodass wir uns ducken
und klein machen oder aber auf und davonrennen. Jede Form von Stress, die bei uns eine Kampf- oder Fluchtreaktion hervorruft, triggert den Psoas; so auch die nicht enden wollenden
Bürostunden, ständige Auseinandersetzungen und Verantwortung, die uns dann eben nicht mehr nur im Nacken sitzt.
Meist "haben wir nicht genug Zeit" oder wir sind zu erschöpft, um uns regelmäßig und ausgiebig zu bewegen. Die Folge davon ist, dass all diese Flucht-Energie im Psoas stecken bleibt – weil wir sitzen bleiben.
Dieser Muskel erzählt durch seinen Zustand sehr klar, wie es uns geht. Ängste, Unruhe, Schreckhaftigkeit, Belastungsstörungen, Depression und Schlafstörungen sind typische Anzeichen dafür, dass es dem Psoas nicht gut geht. Dieser Muskel speichert Trauma, sodass wir seine und unsere Belastungen bei jedem Schritt spüren.
Wenn wir uns also bewegen, vielleicht sogar durch die ursprünglichste aller Arten: das Rennen, können wir den Stress aus uns herauslaufen, der Alarmmodus wird beendet.
Wir können den Psoas außerdem dehnen und atmen nicht nur deswegen auf, weil damit auch das Zwerchfell gedehnt wird – wir können die Anspannung herausdehnen. Am besten geht das
durch Sprinterhaltungen, Oberschenkeldehnungen und Rückbeugen aller Art.
Wichtig ist auch das absolute Loslassen, also weder Anspannung noch Dehnung, sondern das Gehenlassen des Psoas. Hierfür gibt es die Konstruktive Ruheposition.
Dabei legt man sich auf den Rücken, stellt die Füße auf den Boden, sodass die Beine angewinkelt sind. Die Arme können seitlich liegen oder über Kreuz auf der Brust, die Ellbogen übereinander.
Dazu kann man einen Bodyscan machen oder sich vorstellen, wie die Beine über einem überdimensionalen Kleiderbügel über der Mittelstange liegen, sodass Ober- und Unterschenkel ganz schwer von den
Knien herabhängen. Zwanzig bis vierzig Minuten in dieser Haltung wirken wahre Wunder, denn dieses tiefe Loslassen befreit nicht nur von Anspannung, Ängsten und Schmerzen, sondern auch von
Erschöpfung. Wenn der Psoas frei ist, bekommen wir Energie zurück!
In dem Bereich, in dem die beiden Psoas-“Schenkel“ sitzen, befinden sich zwei wichtige Energiezentren. Zum einen das untere Dantian im Unterbauch, das in der
taoistischen Lehre als wichtigstes Energiezentrum gilt und das für die Wiederherstellung unseres Gleichgewichts und für Heilung im freien Fluss sein muss. Zum anderen, aus der yogischen Sicht,
deckt der Psoas den Bereich um den Nabel ab, aus dem die Nadis, die etwa 72.000 Energiekanäle, entspringen.
Ob wir Prana oder Qi dazu sagen: Ein gesunder Psoas ist entscheidend für unseren Energiehaushalt, für unsere Selbstheilungskräfte und für unsere Lebensfreude.
Um den Psoas dauerhaft zu entlasten, sind die tiefen Bauchmuskeln wichtig.
Wenn diese nicht fitt sind und wir dann vielleicht noch Übergewicht mit uns herumtragen, muss der (arme) Lendenmuskel mehr arbeiten (stützen) und ermüdet auf Dauer. Abhilfe schaffen da Übungen, die die tiefe Bauchmuskulatur trainieren. Meine Favoriten hierfür sind nicht Situps, sondern die Unterarmplanke, dabei mit der Hüfte kreisen und das "rudernde Boot": Navasana aus dem Yoga, dabei Arme und Beine in sämtliche Richtungen bewegen.
Warum der Psoas so wichtig ist?
Weil er physisch und funktionell zentral ist. Weil er uns Haltung, Anmut, Selbstbewusstsein und Sicherheit gibt. Weil er unser Befinden mit außergewöhnlicher Intensität aufnimmt und es uns (durch Schmerzen) zurückspiegelt. Weil er uns physisch und psychisch zentriert, unsere Mitte ist. Weil er unsere Bauchorgane und unsere Vitalität beherbergt.
Und weil ein gesunder Psoas Lebensfreude pur ist!
Quellen
- "Psoas-Training" von Jo Ann Staugaard-Jones
- "The Psoas Book" von Liz Koch
- "Hüftbeuger mobilisieren" von Liebscher&Bracht