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„Let it be“ III: Loslassen und Nichtanhaften durch Yoga

Yoga ist ein wunderbares Werkzeug. Genau so, wie es deutlich schneller und einfacher geht, einen Nagel mittels Hammer ins Holz zu schlagen, anstatt zu versuchen, ihn mit der Hand hineinzudrücken, bringt uns unsere Yogapraxis zielgerichtet und effizient in die Transformation.

 

Wer sich noch damit beschäftigt, wie schön er oder sie im Kamel, im Dreieck, im Halbmond aussieht und ästhetische Yogaselfies am Strand im Bikini postet, verschwendet seine Zeit, das bringt keine Veränderung, sondern stärkt die Eitelkeit - und damit die Anhaftung. Die Aufmerksamkeit bleibt im Außen hängen, anstatt sich nach innen zu wenden und damit dem eigentlichen Zweck von Yoga – pratyahara, dem Rückzug der Sinne – zu folgen.

 

Am allerbesten können sich unsere Sinne zurück ziehen und das weite Universum im eigenen Inneren erforschen, wenn wir nicht anhaften. Dies ist der dritte Teil: „Let it be“: Nichtanhaften – oder auf Sanskrit: vairagya.

 

Wir könnten also, während wir Yoga machen, daran anhaften, wie wir dabei aussehen. Beispielsweise ist es im HotYoga (BikramYoga) üblich, nur wenig bekleidet im komplett verspiegelten Raum zu üben. Das widerspricht meiner Idee von pratyahara und vairagya. Wir können beim Üben im Raum herumschauen und die Kleidung, Matten und Props der anderen bewundern – und: haben wollen! Im NacktYoga (ja, das gibt es.... ich unterdrücke hier gerade ein „tsssssssssss“ samt Naserümpfen) sind alle vollkommen nackt, inklusive des Lehrers oder der Lehrerin. In diesem Yoga soll der Vorteil darin bestehen, sich nicht von Dingen wie Kleidung ablenken zu lassen. Ach so. …

 

Also, Yoga, pur, frei von Anhaftung aber mit Einkehr nach innen. Wie geht das?

 

Der erste Anker hierfür ist immer der Atem. Der rauschende Ujjayi-Atem eignet sich bestens dafür, da er hörbar ist können wir unsere Aufmerksamkeit recht leicht auf ihn richten. Hinzu kommt seine beruhigende Wirkung, sodass unser so oft nach außen gerichtetes Nervensystem (ständig auf der Suche nach Gefahren) sich beruhigen, sich sicher fühlen kann. Damit ist die Tür nach innen geöffnet.

 

Innere drishtis sind sehr hilfreich. Drishtis werden allgemein als die Blickpunkte innerhalb der Asanas verstanden – im Dreieck zur oberen Hand schauen, im Drehsitz über die Schulter, in der sitzenden Vorwärtsbeuge zu den Zehen. Die Augen auf diese Weise ruhig zu stellen, bringt schon viel. So suchen sie nicht ständig den Raum ab. Der innere drishti geht aber weiter, direkt zur Innenwahrnehmung. Wie fühlen sich beim Üben meine Muskeln an, die Bandhas, wie atme ich, was fühle oder denke ich, wenn eine herausfordernde Position kommt?

 

Jede Übungspraxis mit einer Meditation beginnen und damit enden, auch das schult das Loslassen und den Rückzug nach innen. Wir lernen dabei zufrieden zu sein, ohne dass wir was im Außen (ein Geschenk, ein Lob, eine Anerkennung) bekommen haben. Schließlich ist dies der Weg zum reinen, von äußeren Einflüssen unbeeinflusste Glück - Glückseligkeit. Im Yoga wird dieser Zustand ananda genannt. Um zu ananda zu gelangen, müssen wir frei und unabhängig sein, glücklich ohne Grund. Und genau aus diesem Grund sind das Nichtanhaften und der Rückzug der Sinne die Vorbereitung für diesen erstrebenswerten Zustand.

 

Das Yoga bietet uns noch weitere Techniken als die oben genannten, mit denen wir uns in Richtung der Glückseligkeit bewegen können.

 

Hier kommen meine best of vairagya/“let it be“-Praktiken:

  • Kapalabhati, Bhastrika, Simhasana: sind allesamt wunderbare Atemtechniken, die helfen, stagnierte Energie, aber auch verbrauchten Atem auszuleiten und lockern das Zwerchfell. Kapalabhati hilft insbesondere, rotierende Gedanken loszulassen. Bhastrika wirkt bei Trauer (sowohl um trauern zu können wie auch damit aufhören zu können), Simhasana unterstützt beim Loslassen von Wut und innerer Anspannung.

    Aufgrund des Corona-Virus dürfen und sollten solche kraftvollen Atemtechniken aktuell nur alleine ausgeführt werden, da die Aerosolbelastung hierbei ansteigt und sich Krankheitserreger deutlich schneller verteilen. Dasselbe gilt für das Singen und Chanten von Mantren.

  • alle Übungen für die Hüfte / Psoas / 2. Chakra: Das zweite Chakra umfasst den Bereich Hüfte, Leiste, unterer Rücken, Nieren. Hier ist der Sitz unserer Lebensfreude – nicht selten ist sie überlagert von Stress, Kontrolle und Gefühlen, die wir nicht loslassen können/wollen, was meist in Selbstmitleid (= Anhaftung) mündet. Typische Yogahaltungen, die diese Blockaden lösen können sind:

    Baddhakonasana, Supta Vajrasana, Eka Pada Rajakapotasana, (Urdhva) Dhanurasana, Hanumanasana, low/high lunge, dynamische Bewegungen des Hüftgelenks

  • Die Sodarshan Chakra Kriya ist eine aktive Meditation aus dem KundaliniYoga. Ihre Wirkung ist sehr subtil energetisch, räumt in unserem Unterbewusstsein auf und kann so dazu beitragen, dass wir Muster aus der Kindheit und erlernte Ängste und Negativität, die vielleicht schon zur Depression geworden sind, loslassen. Meine eigene Erfahrung mit der Sodarshan Chakra Kriya ist intensiv und transformativ gewesen. Ich komme immer wieder auf sie zurück, wenn ich etwas nicht recht packen und lösen kann. Wichtig: mit einem Mal oder mal ab und zu ist es nicht getan. Für einen Effekt sollte wenigsten 40 Tage am Stück praktiziert werden. Erst innerhalb dieser Dauer finden Veränderungen statt, die bleibend sind. Wem sie schwerfällt: mit drei Minuten beginnen und langsam steigern.

  • Eine weitere Meditation aus dem KundaliniYoga oder manchmal auch als Pranyama bezeichnet „Act, don't react“ also: „Agieren statt reagieren“. Für mich liegt hierin eine der größten Freiheiten. Agieren heißt, sich nicht treiben, drängen, manipulieren lassen. Nicht impulsiv auf äußere Einflüsse reagieren, sondern von einer inneren, willentlichen Entscheidung heraus handeln. Um das zu meistern, müssen die Auslösemuster für unser impulsives Verhalten, die Trigger, deaktiviert werden. Diese simple Meditation hilft dabei. Auch hier gilt die Mindestübungsdauer von 40 Tagen, gerne länger.

  • YogaNidra: Das ist der Schlaf der Yogis. Hört sich zunächst gemütlich an. Doch es ist ein aktiver Schlaf, das Bewusstsein driftet nicht weg ins Unbewusste, so, wie es das meist während unseres normalen Schlafs tut. Wir bleiben im Alphazustand, der zum einen sehr regenerierend wirkt, zum anderen werden wir durch innere Bilder und Wahrnehmungen geführt, die unsere fünf Körperhüllen, die Koshas, reinigen. Sind diese Hüllen gereinigt, können sie untereinander kommunizieren. Im Kern dieser Hüllen liegt ananda, die Glückseligkeit. Zusätzlich bereitet uns diese lange Haltung in Savasana (übersetzt: Leichenhaltung) auf das bewusste, angstfreie Sterben vor. Das große Loslassen. Und die darauf folgende Wiederauferstehung: Ein bisschen wie neu geboren stehen wir nach 30-40 Minuten YogaNidra auf und beginnen von Neuem.

  • Das Mantra „Ishwara Pranidhana“ - „Hingabe an das Höchste“ im Sinne von: „Ich gebe mich hin an die höchste Energie/an Gott/an die Quelle der Liebe.“ Entlehnt aus dem Sutra 2.45: „samadhi-siddhi-isvarapranidhanat“: „Hingabe an das Göttliche führt zu samadhi (der vollkommenen Erkenntnis)“, Übersetzung von Sriram

  • Das Shiva-Mantra Om Namah Shivaya - „Ich begrüße Shiva in meinem Leben.“ Dazu muss man nicht an die indische Gottheit glauben. Es geht vielmehr darum, bestimmte Energien in unser Leben einzuladen, in diesem Fall die Energien von Shiva. Er ist der Zerstörer und der Bewahrer. Er bewahrt und schützt, indem er zerstört, das natürliche Gleichgewicht wieder herstellt, wenn es aus der Balance gekommen ist. So, wie die Zweige einer verblühten Orchidee abgeschnitten werden müssen, damit neue Blüten nachkommen können. Wenn wir uns an vergängliche Dinge klammern und uns mit ihnen identifizieren, ist es die Shiva-Energie, die uns diese Dinge plötzlich entreißt. Zunächst leiden wir, weil wir sie nicht loslassen wollten, weil wir das Gefühl haben, ein klein wenig zu sterben, weil sie doch (scheinbar) ein Teil von uns waren. Wenn man erst einmal losgelassen hat, realisiert man, welcher Illusion man erlegen war und wie sich Freiheit und das Wahre Selbst anfühlen. Das Shiva-Mantra zu chanten ist wie ein Hausputz, sollte man regelmäßig machen, tut gut, hilft beim freiwilligen Loslassen und bringt Freude. Denn auch das ist er: Shiva, der Freudenbringer – Jaya Jaya Shiva Shambho“

  • In der Shiva-Tradition steht auch dieses bekannte Mantra: Das Maha Mrityunjaya Mantra" oder auch als „Om Tryambakam“ bekannt. Es ist das große todbesiegende Mantra. Es erklärt uns unsere Unsterblichkeit – wenn wir das begreifen, können wir ganz und gar loslassen. Wir können Kontrolle und sämtliche Anhaftungen gehen lassen, weil uns die Idee (die Wahrheit) von der unsterblichen Seele Sicherheit gibt. Wir, unsere Energie, bleibt erhalten. Letztendlich ist wohl alles Anhaften, nicht Loslassen können an die Angst zu vergehen, sich aufzulösen, gekoppelt. Solchen Gedanken stellen wir uns im Alltag nicht gerne, weil sie groß sind und weil wir vielleicht auch nicht wissen, was wir glauben sollen. Dennoch wirkt diese Angst tief in unserem Innersten und macht uns unfrei, ohne dass wir wissen, warum.


    Man könnte sich einfach einmal fragen: „Wie würde ich leben, handeln, fühlen, sprechen, sein, wenn ich keine Angst vor der Vergänglichkeit hätte?“ Oh, wie wunderbar, wie viele Möglichkeiten, wie viele Potentiale, wie viele Gedankentüren sich plötzlich öffnen... Einfach loslassen. Let it be.