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Mantra des Mitgefühls: Om mani padme hum.

Om mani padme hum ist das große Mantra der Buddhisten. Der Weg des Buddhismus beruht auf allumfassender Liebe und Mitgefühl und Om mani padme hum ist das Mantra der Liebe und des Mitgefühls.

Wörtlich aus dem Tibetischen übersetzt bedeutet dieses Mantra so viel wie: „Oh, du Juwel im Lotos“ (aus: „Das große Mantrabuch“). Das klingt zunächst so gar nicht nach Liebe und Mitgefühl. Was also steckt hinter diesen Worten?

 

„Om“ ist die vereinfachte Schreibweise von „AUM“. Diese drei Buchstaben stehen für drei Bereiche, die uns als Lebewesen ausmachen, insbesondere in Bezug auf unsere Entwicklung: Körper, Rede und Geist. Nicht nur das, sondern auch für den Zustand, in dem sich Körper, Geist und Rede befinden: rein oder unrein. „Rein“ meint hier erleuchtet, erwacht, ungetrübt von Leid und Negativität, erfüllt von der ewig gültigen Erkenntnis der Wahrheit – so, wie Buddha (übersetzt: „der Erwachte“). „Unrein“ ist demnach das genaue Gegenteil. Unrein sind wir, wenn wir verwirrt, krank, unglücklich, negativ und unwissend, nicht erwacht sind, wenn wir leiden.

Da in „AUM“ sowohl die Möglichkeit des reinen und des unreinen Zustands enthalten ist, liegt auch in uns, als Praktizierender, die Möglichkeit für beides. In uns leidenden, unerwachten Menschen liegt das Potential, ein Buddha zu sein!

 

Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh erzählt, dass man sich in seinem Tempel Plum Village immer „Hallo!“ sagt, wenn man sich auf der Anlage begegnet, indem man die Hände sanft aneinanderlegt und sich vor dem anderen verneigt - egal ob Mönch oder Besucher. In Gedanken überreicht man dieser Person einen Lotos, das Symbol höchster Reinheit und Transformation. Denn: Jeder, den man trifft, könnte ein Buddha werden, ganz gleich, in welchem Zustand er sich aktuell befindet. Hier wird die Bedeutung des „AUM“ gelebt: Ich sehe jetzt einen leidenden Menschen (der womöglich zu meinem eigenen Leid beigetragen hat) und weiß gleichzeitig, dass er die Fähigkeit der Erleuchtung in sich trägt. Das „AUM“ birgt also den Gedanken der Gleichheit und der den Menschen innewohnenden Fähigkeit zur Transformation.

 

Nur – wie? 

Wie diese Entwicklung geschehen kann, beschreibt der Rest des Mantras: „mani padme hum“.

 

„Mani“ bedeutet Juwel und beschreibt zugleich die Methode, den Übungsweg. Der Übungsweg ist das besondere Juwel, das allen Menschen geben kann, was sie sich wünschen. Auf den Punkt gebracht, ist das die Befreiung von Leid. Alle Praktiken, Verhaltensweisen des Mitgefühls, des Bodhicittas – also der Entschlossenheit, die Erleuchtung nicht aus Eigennutz, sondern selbstlos zum Wohle aller Lebewesen zu erlangen – sind dieser Übungsweg. Das bedeutet, Mitgefühl für jedes einzelne Wesen zu haben, nicht zu urteilen oder zu begrenzen, nicht zu sagen: „Du hast weniger Liebe verdient.“ Denn jeder ist gleich. Jeder (so unglaubwürdig das manchmal scheinen mag) hat das Potential ein erleuchteter, erwachter Mensch, ein Buddha des Mitgefühls zu sein.

 

„Padme“ bedeutet Lotos. Die Lotosblüte steht für höchste Schönheit und ewige Reinheit. Aus dem dreckigen Schlamm des Sees kommend erwächst eine wunderschöne Blüte, der man ihre Herkunft nicht ansieht, an der jeder Schmutz abperlt – wie der Lotoseffekt besagt. Und doch braucht sie den Schlamm als Nahrung, nur aus ihm konnte sie entstehen, so, wie wir die oft unangenehmen, leidvollen Erfahrungen brauchen, um uns weiterzuentwickeln. Diese lebensverändernden Erfahrungen werden zu unserer Weisheit und somit steht der Lotos für die Weisheit. Diese Weisheit versetzt den Praktizierenden in einen Zustand der Widerspruchslosigkeit: alle Gegensätze heben sich auf. Anstatt unaufhörlich zwischen positivem und negativem Geist hin und her zu pendeln – was gleichbedeutend ist mit Leid – ruht sein Geist in der Neutralität, in der Erkenntnis des Wissens, was wahr ist.

Man erinnere sich nur an schlaflose Nächte, weil man sich nicht für das eine oder das andere entscheiden konnte, weil man nicht wusste, was richtig war oder weil man nicht bekommen hat, was man wollte und die innere mit der äußeren Welt in Widerspruch lag. Widerspruchslosigkeit bedeutet, dauerhaft im neutralen Geist zu verweilen. Der neutrale Geist ist das Herz, die Liebe, die Intuition, absolute Klarheit und das spontane Wissen darum, was das richtige Handeln ist. Also: keine schlaflosen Nächte mehr. Kein Leiden mehr.

 

Weisheit und Gegensätzlichkeit schließen sich aus, ganz so, als sei man das personifizierte Yin&Yang-Zeichen: Die Gegensätze und Widersprüche – damit auch jedes (Ver-)Urteilen – heben sich durch ihre Vereinigung auf.

Die Weisheit der Leere entsteht, also das Verstehen, dass alle Dinge von ihrer Bedeutung her leer sind. Wir selbst sind es, die ihnen diese oder jene Bedeutung zusprechen. Wer das versteht, leidet nicht, da er sich selbst als Ursprung des Leidens erkennt.

 

Nun bleibt noch „hum“.

Diese Silbe bedeutet, dass etwas nicht trennbar ist. In diesem Fall bezieht sich „hum“ auf „mani“ (die Methode, das Praktizieren) und „pedme“ (die Weisheit). Beides gehört untrennbar zueinander, das eine hilft jeweils dem anderen, sich zu entwickeln. So, wie der Vogel beide Flügel braucht, um fliegen zu können. Aus der Übung ("mani") entsteht die Weisheit ("padme") und die Weisheit verändert und vertieft die Übung. "Mani" und "padme" bilden ein einziges, einheitliches Bewusstsein, das vollständig entwickelt ist. Man stelle sich das im alltäglichen Leben vor: Kein ständiges Schwanken zwischen Freude im einen und Ärger im nächsten Moment. Keine Ups und Downs, kein schön und nicht schön, kein ringen um die richtige Entscheidung, keine Bewertungen. Keine enttäuschten Erwartungen, denn auch die Innen- und die Außenwelt sind Eins. Wir sind im besten Sinne desillusioniert, frei von Illusionen.

 

"Hum" ist zudem die Keimsilbe (sozusagen die Schwingung, die Frequenz) des Buddhas der Weisheit Akshobya. Er ist „der Unerschütterliche“, der, der von nichts und niemandem gestört und irritiert werden kann. Als Statue trägt er in seinen Händen jeweils ein männliches Attribut (den Vajra in der rechten Hand: Mitgefühl und die Zerstörung von Unwissenheit) und ein weibliches (eine Glocke in der linken Hand: Weisheit und Reinheit). In seiner Person vereint er diese vermeintlichen Gegensätze des Männlichen und des Weiblichen, die symbolisch für alle denkbaren Gegensätze stehen, und macht aus ihnen eine unauflösbare Einheit.

Wie wichtig die Betonung der Einheit anstelle die der Trennung ist, macht ein Blick in die Zeitung bewusst. Rassismus, Gender-Thematiken, Klimawandelgegner/Klimawandelbefürworter, Verschwörungstheorien, immer währendes Misstrauen und Kämpfe sind an der Tagesordnung. Der neutrale Geist scheint weit, weit weg zu sein.

Während solcher Zustände den Weg des Mitgefühls zu beschreiten und einfach zu lieben, auch die, die uns fremd und nicht liebenswert erscheinen, ist eine Herausforderung. Doch auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Der könnte sein, dass wir beginnen, echtes Mitgefühl uns selbst gegenüber zu haben, uns einzugestehen, wenn wir leiden, anstatt das zu überspielen, um Stärke zu zeigen. Unsere Kämpfe im Alltag zu sehen und mit uns selbst mitzufühlen. Wenn wir unser eigenes Leiden verstehen, verstehen wir ganz spontan die Leiden des Anderen. Einfach, weil wir uns geöffnet haben.

Wir müssen nicht einmal im Außen suchen, nach irgendjemandem Ausschau halten, der uns die Buddhaschaft ermöglicht, der uns das Mitgefühl lehrt. Alles, was wir brauchen, die gesamte Bedeutung von "Om mani padme hum", liegt in uns selbst und ist lediglich durch unseren karmischen Ballast verschleiert.

 

Zeit, den Schleier zu lüften und aufzuwachen.

Wie?

Durch chanten, laut oder nur in Gedanken, des Mantras

OM MANI PADME HUM.

 

 

 

Quellen

Om mani padme hum, Deva Premal · The Gyuto Monks Of Tibet

The Meaning of Om Mani Padme Hum, Thubten Tarpa

"Mantras – Das große Praxisbuch", Marcus Schmieke, Sacinandana Swami

"Die Mantra-Box", Lisa Freund, Anna Trökes