Im Yoga geht es nicht nur um Entspannung. Es geht auch um Energie und Kraft, um Wachheit und Klarheit des Geistes, um Hingabe, um Verbindung mit sich selbst, mit dem Atem und dem Körper und allem, was ist.
Doch Entspannung ist die Basis, um diese Stufen des höheren Seins erklimmen zu können. Unser geschäftiger Alltag, Dauererreichbarkeit und das Weltgeschehen können Anspannungen in unserem Körper, im Geist und den Emotionen bewirken und damit auch energetische Blockaden schaffen. Diese können wir als Müdigkeit, Erschöpfung, Unruhe, Nervosität und Ängste wahrnehmen.
Yoga und Meditation sind wunderbare Werkzeuge, um Blockaden zu lösen, sodass wir in uns wieder Weite und Öffnung finden. Das Gefühl von Freiheit, selbst dann, wenn sie im Außen gerade eingeschränkt ist.
Die Empfehlung: „Setz dich mal hin und meditiere ein bisschen!“ verursacht bei vielen gestressten Menschen noch mehr Stress. Von der Anspannung, der Nervosität, dem Gefühl, sich eigentlich nicht entspannen zu dürfen, weil es noch so viel zu tun gibt, direkt eine Technik zu nutzen, die ein gewisses Maß an Ruhe voraussetzt, funktioniert meist nicht.
Ebenso kann es sich mit ganz ruhigen Yogastilen verhalten wie z.B. Yin oder klassisches HathaYoga. Wenn mein Körper verspannt und unruhig ist und ich eine YinYoga-Klasse mache, dann bekomme ich einige Stunden nach dem Yoga Rückspannungen.
Warum ist das so?
Wenn der aktive Teil des Nervensystems (der Sympathikus) dominiert, macht es ganz oft Sinn, diese Aktivität zunächst weiterzuführen und zu steigern, anstatt sie zu unterdrücken. Aus diesem Grund ist Jogging eine gute Möglichkeit, um Stress abzubauen.
Wer lieber Yoga macht, kann Sonnengrüße bis zum Schwitzen machen oder auf dynamische Yogastile zurückgreifen. Wenn Herzschlag und Atmung hochgehen, geht die Anspannung runter. Irgendwann sind dann die ausgeschütteten Stresshormone aufgebraucht, verarbeitet und wir können ganz automatisch zum anderen Pol des Nervensystems (dem Sympathikus) wechseln. Hier finden wir Ruhe, Entspannung und Erholung.
SAVASANA UND MEDITATION
Ruhe und Entspannung können bedeuten, nach aktiven Bewegungen lange (10-15 Minuten) in Savsasana zu bleiben oder auch zu meditieren. Das ist der klassische Ablauf einer Yogastunde: Nach der Aktivität folgt die Ruhe. Auf diese Weise werden Yin und Yang ausgeglichen.
Es gibt noch andere Wege, das Nervensystem zu entspannen und damit auch den Vagusnerv ins Lot zu bringen. Dieser Selbstheilungsnerv ist erantwortlich für unser Wohlbefinden. Ist er in einer gesunden Aktivität, dann sind wir sowohl entspannt wie auch wach, klar, aufmerksam und widerstandsfähig.
Die folgenden Techniken sind darauf ausgerichtet, schon während des aktiven Parts unserer Praxis für Entspannung zu sorgen, indem sie alle den Vagusnerv aktivieren.
PANDICULATION
Pandiculation ist ein Begriff aus der somatischen Körpertherapie und bezeichnet das Recken und Strecken des Körpers zusammen mit initiiertem Gähnen. Also das, was wir vor oder beim Aufstehen aus dem Bett meist automatisch machen.
Dieser simple Akt des Streckens und Gähnens wirkt sich auf unser Nervensystem aus wie eine Rekalibrierung: Die Körper- und Nervenspannung wird neu eingestellt und der aktuellen Situation angepasst. Kommen wir aus dem Bett nach langem Schlaf, dann dient es der Aktivierung der Muskeln und des Gehirns. Kommen wir aber von acht Stunden Schreibtischarbeit, während der sich mentale, emotionale und physische Spannungen aufgebaut haben (also Stress), dann bewirkt die Pandiculation, dass wir runterfahren können.
Wie sieht das im Yoga aus?
Du kannst deine übliche Klasse, deinen üblichen Stil praktizieren und die Pandicualtion in den Asanas einbauen. Das muss nicht in jeder Yogahaltung geschehen, doch wenn man einmal damit angefangen hat, geschieht es automatisch immer öfter.
Zum Beispiel könntest Du im Dreieck Dein oberes Handgelenk kreisen lassen, dabei die Hand zur Faust machen, dann die Finger wieder strecken, dazu den Arm etwas mehr nach oben recken – und gääääääähnen.
Bevor Du in die gegrätschte Vorwärtsbeuge (Prasarita Padottanasana und Upavistakonasana) gehst, könntest Du die Arme weit zur Seite oder zur Decke ausstrecken und gähnen. Und dann erst geht es in die Vorwärtsbeuge. Auf diese Weise kannst Du je nach Asana alle Körperteile mal strecken und immer wieder gähnen.
Anfangs mag das befremdlich und irgendwie aufgesetzt sein. Doch je öfter Du es machst, desto mehr wird es der Körper einfordern. Die Entspannung, die dabei entsteht, ist unvergleichlich tief.
Während Deiner eigenen Praxis zu Hause bist Du ganz frei, so lange und so oft und so laut zu gähnen, wie es Dir guttut. Solltest Du die Idee der Pandiculation als Teilnehmer°in mit in eine Yogaklasse nehmen, ist es sinnvoll, das zuvor mit dem Yogalehrer, der Lehrerin abzusprechen, damit keine Irritationen entstehen.
Bist Du selbst Yogalehrer°in, probiere diese Technik doch mal in deinen Unterrichten aus: Lautes Vorgähnen und demonstratives Strecken wird helfen, deine Schüler°innen zu motivieren. Denn Gähnen ist tatsächlich ansteckend. Während ich diesen Absatz geschrieben habe, habe ich alleine durch die Vorstellung unzählige Male gegähnt.
MOVE LIKE WATER
Dein Nervensystem mag es, wenn Du Dich wie Wasser bewegst. Dadurch entspannen Körper und Geist ganz schnell – ohne, dass Du stillhalten müsstest. Im Gegenteil. Durch eine flowartige Bewegung kommt die Entspannung zustande.
Zum einen ist das möglich, durch einen sanften (kein PowerYoga) YogaFlow, bei dem eine Bewegung fließend und harmonisch in die nächste übergeht. Deine Yogapraxis ist dann fast schon wie ein Tanz oder ähnelt den Übungen aus dem QiGong.
Zum anderen kannst Du die fließenden Bewegungen in einzelne Yogaasanas integrieren. Nehmen wir wieder das Beispiel der gegrätschten Vorbeuge im Stehen (Prasarita Padottanasana). Bringe die Hände zum Boden, dabei dürfen die Beine gebeugt sein. Bewege deine Hände über den Boden, als würdest Du ihn wischen, in einer großen Bewegung, die aussieht wie eine liegenden Acht. Nicht nur die Arme und Hände bewegen sich dabei, der ganze Körper ist aktiv. Die Beine beugen und strecken sich rechts/links abwechselnd. Die Wirbelsäule schlängelt hin und her, genauso wie das Gesäß von Seite zu Seite. Auch die Füße werden unterschiedlich belastet.
Die Dauer innerhalb einer Yogahaltung kannst Du frei wählen. Da die Bewegung schnell zur Trance wird, wollen die viele länger darin verweilen.
Auch die Bewegung in Wellenform hat diesen Entspannungseffekt.
Zum Beispiel aus dem Herabschauenden Hund in die Planke wellenartig die Wirbelsäule aufzurollen – und auf dieselbe Weise wieder zurück in den Hund bewegen. Daraus kannst Du ein Rolling Vinyasa machen:
Hier ist Kreativität gefordert. Als Lehrer°in kannst Du ausprobieren, was sich in den Haltungen, die Du verwendest, machen lässt und was sich sinnvoll anfühlt. Du kannst auch nach einigen Anleitungen Deine Schüler°innen auffordern, sich spontan-intuitiv zu bewegen.
Ein wundervolles Beispiel und meine persönliche Inspiration für moving like water ist Julie Martin. In diesem Video demonstriert sie sehr anschaulich, wie immer der gesamte Köper in die Bewegung geht und damit ein Flow, eine Wellenbewegung entsteht:
WIEDERHOLUNGEN
Alles, was wir neu aufnehmen und verarbeiten müssen, lockt den Sympathikus hervor. Wir müssen aufmerksam sein, selbst wenn wir die Übungen schon kennen. Wenn wir den Parasympathikus betonen wollen, macht das Repetetive Sinn. Das hat man beispielsweise in der festgelegten Ashtanga-Klasse oder in der Rishikeshreihe des Sivanandayogas. Aber auch in einer freien Vinyasaklasse ist das möglich. Jede Yogastunde kann anders sein. Doch innerhalb einer solchen Stunde kannst Du bewusst Wert auf Wiederholungen legen.
Dazu nimmst Du Dir eine etwa 5-10 minütige Sequenz, die du immerzu wiederholst. In der ersten Runde wird sie noch langsamer praktiziert und mehr erklärt, mehr Zeit in den einzelnen Haltungen gelassen. Beginne mit einfachen Varianten.
Mit jeder Runde kannst Du zu einer herausfordernderen Variante übergehen, natürlich mit der Option, weiterhin einfach zu praktizieren. Das Tempo kann zunehmen und vielleicht kommt mit jeder Runde eine neue Haltung dazu.
Auf diese Weise entspannt der Geist. Wiederholungen mögen ein Gefühl der Langeweile erschaffen, doch genau das ist Entspannung! Und der Körper kann immer tiefer in die Haltungen gehen, mehr loslassen, sich lösen. Einerseits weil dieselben Muskeln, Faszien, Bänder, Gelenke durch Wiederholung derselben Sequenz angesprochen und vorbereitet werden. Andererseits weil ein Vertrauen entsteht. Der Körper weiß, was er tun soll und dass die Bewegung sicher ist. Dieser letzte Aspekt ist nicht zu unterschätzen!
Auch hier ist für mich die Meisterin der Wiederholungen Julie Martin.
AUGEN, KEHLE & ZUNGE
Hier kommen noch einige kleine Bewegungsempfehlungen hinzu, die mit minimalem Aufwand einen großen Effekt auf das Nervensystem haben.
Augen, Kehle und Zunge sind Bereiche, die wir tendenziell nicht beachten, wenn wir Yoga üben. Ein Fehler, denn sie sind wahre Schatzkammern an Entspannungspotential. Alle sind direkte Triggerpunkte des Vagusnervs. Das bedeutet, über sie können wir ihn ganz leicht erreichen und aktivieren.
Sind Augen, Zunge und Kehle verspannt, geht es auch dem Vagusnerv nicht gut – und damit geht es uns insgesamt nicht so gut. Dann sind wir schneller reizbar, fühlen uns verletzlich, angespannt, alles ist zu viel. Vielleicht haben wir sogar Schmerzen, nicht selten im Gesicht. Oft aber bemerkt man die Verspannungen dieser Bereiche erst, wenn man sie bewusst wahrnimmt und bewegt.
Durch unser neues Zoom-Zeitalter haben sich Vagusprobleme, vor allem im Gesichts-/Kopfbereich verstärkt. Manchmal stundenlang auf einen Bildschirm zu starren, während man von den anderen beobachtet werden kann, strengt an und regt zur ständigen Selbstüberprüfung an, da man auch sich selbst sehen und beobachten kann.
Die Augen…
… entspannen sich, indem Du ganz nach rechts schaust, ohne dabei den Kopf zu drehen. Du blickst nur in die rechten Augenwinkel und hältst diese Position eine Minute lang. Dann machst Du dasselbe mit der linken Seite.
Unterstützend wirkt, wenn Du Deine Hände hinter dem Kopf verschränkst.
Diese Übung kannst Du im Sitzen oder, noch entspannter, im Liegen ausführen.
Wenn Du dabei gähnen musst, ist das ein gutes Zeichen.
Das ist die Standartübung für den Vagusnerv. Du kannst natürlich die Augen auch kreisen lassen oder in einer liegenden Achterform bewegen. Nach oben und unten, rechts und links und diagonal.
Pausen zwischen den einzelnen Richtungen, während der die Augen geschlossen sind und ruhen dürfen, sind ratsam. So überanstrengst Du sie nicht.
Die Kehle…
…ist oft durch vieles Sprechen angespannt, die Stimme wird kratzig. Da hilft ganz einfach: Schlucken. Während Du Dich auf Deine Yogaklasse einstimmst, schlucke einige Male, als hättest Du Wasser im Mund.
Diese Bewegung löst Spannungen im Nu auf. Auch hier kann es sein, dass Du reflexartig gähnen musst.
Natürlich kannst Du das Schlucken auch immer mal wieder praktizieren. Während der Asanas, im Alltag, während der Schreibtischarbeit. Auf diese Weise nimmst Du regelmäßig Spannung aus deinem Hals und aus deinem Nervensystem.
Die Zunge…
…und die Kehle sind ganz eng miteinander verbunden. Die Zunge geht über in den Zungenboden und der wiederum in die Kehle. Entspannen wir unsere Zunge, steigt messbar(!) unsere Entspannungsantwort.
Die Yogaübung Simhasana (die Löwenatmung) hilft dabei.
Atme dafür tief durch die Nase ein. Dann streckst Du die Zunge so weit heraus in Richtung Kinn, wie Du nur kannst und atme kraft- und geräuschvoll aus. Wie ein Löwe!
Zusätzlich kannst Du dabei die Augen in Richtung Stirn rollen und die Finger spreizen. Das unterstützt den Effekt.
Wiederhole das 3-5 Mal.
Eigentlich ist dies eine separate Übung. Du kannst sie jedoch in einige Asanasas integrieren. Zum Beispiel in der aktiven Kindeshaltung, während der Katze-Kuh-Übung, im Herabschauenden Hund, im Fisch (Matsyasana). Und sicherlich noch in einigen anderen.
KONSTRUKTIVE RUHEPOSITION
Die Konstruktive Ruheposition (auch CRP genannt) kommt aus der Körperarbeit und hilft dabei, richtig tief runterzufahren und sogar Schmerzen und Trauma zu lösen. Ihr Entspannungseffekt ist weitaus höher als in einer gewöhnlichen Savasana-Haltung.
10-40 Minuten zu praktizieren ist sinnvoll.
Falls Du sehr müde oder verspannt bist, kannst Du die CRP vor Deiner Yogaklasse machen. Du kannst sie aber auch für die Endentspannung nutzen. Oder ganz einfach auch so, ohne Yoga drumherum.
Hierzu will ich keine weiteren getippten Worte verlieren.
Du kannst sie gleich angeleitet praktizieren, wenn Du auf diesen Link klickst.
Und denk dran: Bei allem ist der Ausgleich wichtig, das Yin&Yang.
Wenn wir es schaffen, die aktiven und die regenerierenden Kräfte im Gleichgewicht zu halten, geht es uns gut. Denn dann findet Homöostase statt: Unser System findet wieder zurück ins Gleichgewicht.
Da gibt es kein Burn Out. Keine Langeweile oder Unterforderung. Keine chronische Müdigkeit.
Sondern ein Leben im FLOW.
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