Yoga zu praktizieren ist bei allen, die ich im Yoga anleiten und begleiten durfte, mehr als zu einem Hobby geworden. Der Einstieg ist ganz oft der, dass man mehr für die Gesundheit, den Körper tun möchte, ein Yogakurs für Schwangere oder Stressmanagement. Doch mit der Zeit wird daraus mehr. Yoga wird zu einer Beziehung – und die will gepflegt werden. Wer glaubt, alles bleibt wie zu Beginn, nur mit dem Unterschied, dass auf Dauer die Asanas schicker aussehen, irrt.
„Beziehung“ meine ich wortwörtlich. Zuerst verliebt man sich in Yoga. Manche nach einigen Dates und lassen es mit ein mal pro Woche „sehen“ langsam angehen. Andere verlieben sich sofort und Hals über Kopf. In dieser Zeit stürzt man sich ins Yoga hinein und verbringt am liebsten jeden Tag mit Yoga und will alles darüber wissen. Mit der Zeit geht das Verliebtsein über in eine solide, weniger aufgeheizte Beziehung des Vertrauens und der Liebe. Man kennt sich nun schon ganz gut – nicht nur die schönen Seiten. Irgendwann wird man sich fragen: Gehören wir noch zusammen? Manchmal kann ich dich nicht leiden und vielleicht wäre ich glücklicher ohne dich. Dann gilt es, an dieser Beziehung zu arbeiten, sie zu verändern und gemeinsam neue Wege zu gehen.
Damit deine Yoga-Beziehung im Fluss und eine glückliche bleibt, teile ich hier meine Erkenntnisse aus meinen 23 Jahren mit Yoga.
#1
KENNE DICH
Dieser erste Punkt ist mit der wichtigste. Ohne ihn sind die anderen Tipps hinfällig, denn wer sich durch Yoga nicht kennenlernt, wird immer wieder frustriert sein und die Beziehung vermutlich frühzeitig beenden oder aber eine Hass-Liebe erleben.
Wie alles im Leben ist Yoga und die Art und Weise zu praktizieren immer individuell. Als Lehrerin kann ich noch so viel Erfahrung und Anatomiekenntnisse haben, letztendlich weiß nur der Schüler, was ihm gut tut oder eben nicht.
Besondere Themen, auf die wir achten sollten sind:
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Die Konstitution: Wir sind nicht immer gleich. Je nach Tagesform, Zyklusstand bei Frauen und Lebensphase bei Mann und Frau sind wir in unterschiedlicher Form und Verfassung – physisch und seelisch. Die Achtsamkeit zu entwickeln und sich zu verstehen, zu respektieren und nach den aktuellen Bedürfnissen zu handeln/zu üben, ist die große Kunst. Ob wir krank waren, gerade unsere Tage haben oder unseren Eisprung, ob wir vor, während oder nach der Menopause sind, ein Kind erwarten oder bekommen haben, ob wir ein jüngerer Mann oder eine ältere Frau sind, ob es Sommer oder Winter ist, ob ich ein Vata-, Pitta- oder Kaphatyp bin, ob es früher Morgen oder später Abend ist, ob ich länger pausiert habe und nun wieder einsteige – all das und viel mehr spielt eine Rolle. Und wir müssen auf uns selbst hören und uns den Gegebenheiten anpassen.
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Gewebestruktur: Du solltest wissen, ob du grundsätzlich zu festen Muskeln, Sehnen und Bändern neigst, zu verklebten Faszien oder aber hyperflexibel bist. Die Art und Weise, wie du je nach Typ Yoga übst und was dir gut tut, unterscheidet sich grundlegend. Manchmal ist es sogar das Gegenteil des anderen, was für dich richtig ist.
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Knochenstruktur: Zwar haben wir mehr oder weniger die gleiche Anzahl und Arten Knochen, doch im Detail können sie sich enorm unterscheiden. Wenn beispielsweise ein kleiner Gelenkkopf in einer großen Gelenkpfanne liegt, bedeutet das: große Flexibilität. Umgekehrt ist die Flexibilität bei einem großen Gelenkkopf und einer kleinen Pfanne deutlich geringer. Wie weiß man, ob die Unbeweglichkeit vom Gelenk kommt oder von Muskeln und Bindegewebe? Meist durch Erfahrung. Und die Art des Dehnungsgefühls: ein langgezogenes Dehnungsgefühl entlang eines Muskels spricht für Muskeln und Bindegewebe – ist also behebbar und ausbaufähig. Ein stumpfes Gefühl im Gelenk, das aber nicht schmerzt, spricht meist dafür, dass das Limit der Beweglichkeit erreicht ist – und das sollte man respektieren. Auch wenn das bedeutet, dass manche Asanas in ihrer Endvariante vielleicht nicht möglich sein werden.
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Den eigenen Rhythmus kennen und berücksichtigen: Auch im Yoga gibt es die Lerchen und die Eulen. Mein Körper mag keine Yogapraxis um 7 Uhr morgens. Und wenn es sich doch ergibt, dann praktiziere ich ganz, ganz anders als zu späteren, mir gewogenen Zeiten.
Auch was die Häufigkeit und die Dauer der Yogapraxis angeht, sind wir unterschiedlich, sind wir selbst mal so, mal so. Manchmal kann einem eine halbe Stunde Yoga alles geben, was man braucht, ein anderes Mal dürfen es dann zwei Stunden sein.
Wenn wir uns also kennen, verstehen und nach unseren Bedürfnissen üben, werden wir eine glückliche Yoga-Beziehung führen und verringern das Frust- und Verletzungsniveau deutlich. Denn wir gehen nach innen, anstatt äußere Faktoren wie Bilder der perfekten Position bestimmen zu lassen, wie wir üben. Das ist gelungene Kommunikation und auf der basiert nun einmal jede glückliche Beziehung.
#2
BLEIBE NEUGIERIG
Der Beziehungskiller Alltagstrott macht auch vor Yoga nicht halt.
Einerseits gibt es immer während unserer Yogapraxis etwas Neues zu entdecken, wenn wir nur wachsam genug sind. Ein Meditationslehrer hat seine Schüler so unterrichtet, dass sie ihm jeden Tag eine neue Erkenntnis über ihre Atmung mitteilen sollten. Selbst, wenn wir immer dasselbe machen – jeder Tag ist anders, wir sind anders.
Und dann gibt es noch svadhyaya: das Selbststudium.
Es liegt an uns selbst, die Sache lebendig zu halten, zu lernen, Neues zu erfahren. Informiere dich, recherchiere, besuche eine Fortbildung und werde zum Experten (egal ob du Schülerin bist oder Yogalehrer).
Dies sind einige mögliche Bereiche und praktische Tipps:
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Anatomie: „Anatomy Trains“ von Tom Myers; „Der Selbstheilungsnerv: So bringt der Vagus-Nerv Psyche und Körper ins Gleichgewicht“ von Stanley Rosenberg; „Yoga-Anatomie: Ihr Begleiter durch die Asanas, Bewegungen und Atemtechniken“ von Leslie Kamioff
- Philosophie und Spiritualität: Das Yogasutra und die Bhagavatghita sind Klassiker, z.B. „Die Bhagavad Gita: Das Weisheitsbuch fürs 21. Jahrhundert“ von Ralph Skuban; „Götter-Yoga: Körper und Geist stärken mit der himmlischen Kraft der indischen Götter“ von Ralf Sturm; „Die Yoga-Sutras im Alltag leben: Die philosophische Praxis des Patanjali“ von Eckard Wolz-Gottwald
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Geschichte: Wo kommt Yoga eigentlich her? Und war es schon immer so wie heute? „Die Yoga Tradition“ von Georg Feuerstein
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Romane, Anekdoten, Poesie: Lernen mit einem Lächeln: „Die Kuh, die weinte - Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück“ von Ajahn Brahm; „Eat, Pray, Love“ von Elizabeth Gilbert; alles von Rumi
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Biografien: Lernen von den Großen: „Autobiographie eines Yogi“ von Paramahansa Yogananda; „Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit“ von M.K. Ghandi
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Ayurveda: Yoga ist Teil von Ayurveda. Die eigene Typbestimmung wird mehr Verständnis für sich selbst wecken. „Ayurveda for Life: Ayurvedische Heilkunst für einen modernen Lebensstil & Alltag“ von Janna Scharfenberg
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Filme: Manchmal dürfen es auch bewegte Bilder sein. Dokumentation „Mantra. Sounds into silence“; „Walk with me“ über den Mönch Thich Nhath Hanh und das Alltagsleben im Kloster.
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Inspiration und Coaching: Mein Alltime-Favourite – „Das Herz des Yoga“ von Max Strom
Und es gibt natürlich noch so viel mehr, was man alles wissen und lernen und üben kann: Kirtan, Mantras, AcroYoga, die Arbeit mit Chakren und Energien, Numerologie, Kabbalah... alles, was das Universum und das Leben darin verständlicher macht.
#3
ÜBE ABWECHSLUNGSREICH
Immer gleich zu üben, dasselbe Yoga, immer die gleichen Asanas mit unverändertem Fokus, das nährt uns nicht und ist auch nicht natürlich. Der Körper braucht Abwechslung! Die Faszien beispielsweise lieben es, wenn sie mal federnd, springend, schwingend gedehnt werden, mal lange schmelzend wie im YinYoga, mal erhitzt und kurz angeschwungen wie im dynamischen yang-lastigen Yoga.
Auch unser Hirn liebt Veränderungen: mit jeder neuen Bewegung oder Bewegungsart bilden sich neues synaptische Verbindungen im Gehirn und macht dich schlauer.
Wer abwechslungsreich übt, vermeidet spätere Langzeitprobleme wie Knorpelabnutzungen, Probleme der Wirbelsäule, Überlastungen wie auch Vernachlässigungen bestimmter Bereiche.
Den besten Ausgleich bekommen wir dann, wenn wir in unserer Praxis Yin (Ruhe) und Yang (Dynamik) ausgleichen, nicht nur dehnen, sondern auch kräftigen, also sowohl Stabilität wie auch Flexibilität aufbauen. Wer viele Chaturangas macht, aber keine Dehnung der Schulterpartie, wird in diesem Bereich verkürzte Muskeln haben. Wer sich nur passiv dehnt, wie im Yin-Stil, wird Probleme haben, sich aus eigener Kraft aufrecht zu halten und die Energie wird weniger fließen, da der aktive Teil fehlt.
Jede Form von Veränderung begünstigt unsere Entwicklung - auf jeder Ebene.
Die Asanas und Bewegungsart, den Yogastil zu variieren ist eine Möglichkeit, aber auch mal die Uhrzeit, die Dauer und den Ort (ein anderer Raum oder mal draußen, beim Spazierengehen) der Yogapraxis zu ändern kann dich weiterbringen und neue Seiten am Yoga und dir selbst aufzeigen. In Gesellschaft, im Kurs oder alleine üben, mit oder ohne Musik – auch das beeinflusst die Yogaerfarung enorm.
Wenn all das nicht genügt oder du nicht weißt, welche Art der Veränderung du brauchst, kannst du Inspiration in einer Privatstunde Yoga, in einem Retreat oder in einem Workshop suchen.
#4
SPIELE!
… in den Asanas mit deren Form, mit der Betonung von Kraft oder aber Entspannung. Spiele mit allem, was sich in einer Position bewegen lässt, mit den Gelenken, bewege sie vor und zurück oder in Kreisen und spüre dabei alle Zusammenhänge im Körper.
… mit der Abwechslung von Bewegung innerhalb der Position und anschließender Stille – wie fühlt sich das an?
Das macht Spaß, unglaublich viel Freude und lässt das innere Kind johlen und hüpfen. Freiheit ist wichtig im Yoga und dass wir nicht zu ernst werden. Wo Regeln und Dogmen dominieren, eine falsche "Heiligkeit" etabliert ist, hört oft nicht nur die Freude auf, sondern auch die Gesundheit.
Wenn wir uns erlauben zu spielen – im übrigen auch mit unseren Grenzen – hören wir auf zu bewerten und zu erwarten und das wiederum macht uns glücklicher.
Ganz besonders für die pittalastigen, ehrgeizigen Perfektionisten unter euch ist das ein wichtiger Teil eurer Yogapraxis.
#5
LASSE LOS UND BEGINNE VON NEUEM
Manchmal kommt es so weit, dass man die oberen Punkte so sehr hat schleifen lassen oder aber dass die benötigte Veränderung so groß ist, dass wir loslassen müssen. Wenn die Liebe nicht mehr da ist und wir uns nur noch auf die Matte zwingen, hilft eine Pause.
Wenn wir nicht mehr wissen, warum wir Yoga machen, wo das Problem liegt, dass wir motivationslos sind, dann ist es Zeit für Abstand, ein Loslassen, ein Neuorientieren und schließlich ist ein Neubeginn wieder möglich. Bei manchen dauert dieser Prozess Wochen, bei anderen Monate und Jahre. Ich denke, dabei kommt es darauf an, wie sehr man sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zuvor vernachlässigt hat und wie schnell man einen Weg findet, sie zu erkennen, anzuerkennen und umzusetzen.
In dieser Zeit der Pause macht es Sinn, die bisherige Yogazeit mit anderen Wohltaten für sich selbst zu füllen: einen langen Spaziergang machen, Meditation oder Pranayama üben (falls das nicht zu nah am Yoga ist), ein langes Bad nehmen, kreativ sein.
Man kann aktiv und bewusst darüber nachdenken, was sich in der Yoga-Beziehung ändern soll. Vieles läuft aber unbewusst ab und das Herz wird sich melden mit seinem Wunsch nach Yoga, wenn es so weit ist.
Vielleicht bringt der Neustart dann mit sich, dass wir das „Was ist Yoga?“ für uns persönlich neu definiert haben. Vielleicht sind wir weicher, weniger Regel orientiert geworden und lassen zu, dass Yoga auch in unserem Alltag stattfindet. Durch achtsames Zuhören, durch bewusstes Atmen und Lächeln beim Kochen, durch eine kleine Übung oder Meditation während der Tee zieht...
Vielleicht bringen wir auch eine Bescheidenheit und Dankbarkeit mit: Dankbarkeit dafür, dass wir den Luxus und die körperliche Fähigkeit haben, Yoga zu praktizieren, dass uns dieses alte Wissen zugänglich ist.
Wir können zurückkommen in den sogenannten „beginner's mind“ – in den Anfängergeist – und entdecken das Neue im Alten und verlieben uns dabei nicht nur wieder ins Yoga, sondern auch in uns selbst.